Belagerungszustand am Tag für die Demokratie
Letztlich war es die Antifa, die den Nazi-Marsch am 8. Mai in Berlin verhinderte 
 
Von Lorenz Matzat, Velten Schäfer und Tom Strohschneider 
 
Es ist zu kalt für diese Jahreszeit. Und der Eindruck, den die östliche Mitte Berlins an diesem Morgen macht, lässt nicht unbedingt warme Gedanken aufkommen. Kaum eine Straßenkreuzung, die nicht von Polizei blockiert ist; kaum eine Ecke, in der nicht Einsatzfahrzeuge ihrer Bestimmung harren. In der Hauptstadt ist der »Tag der Befreiung« zu einem »Tag der Belagerung« geworden.
Vor allem rund um den Alexanderplatz hat sich das 9000 Polizisten starke Aufgebot gruppiert. Schon am Vormittag gibt es kaum noch ein Durchkommen. Am Mittag will hier die NPD aufmarschieren – gegen »60 Jahre Befreiungslüge«. Die von den Nazis angemeldete Demonstration ist zum negativen Dreh- und Angelpunkt dieses 8. Mai in Berlin geworden. Gewerkschaften und linke Gruppen haben mehr als 30 Protestaktionen angemeldet. Auch das offizielle Fest am Brandenburger Tor verdankt seine Existenz nicht zuletzt den Rechtsextremen.

»Das ist doch eine geschickte Blockade«

Die Ansammlung von Bratwurstbuden, Bühnen und Ständen, zwischen denen sich am Vormittag erst wenige Touristen verlaufen, will mehr sein als ein bunter Volksauflauf mit Militärmarschmusik. Doch ist dem »Tag für die Demokratie« anzusehen, dass er vor allem Ergebnis einer eiligen Reparaturaktion ist: Das Fest soll den Imageschaden abwenden, der entstanden wäre, hätte man Nazis durch das Brandenburger Tor zum Holocaust-Mahnmal marschieren lassen. Nun belagert das »Bündnis der Demokraten« das Areal. Die Nazis dürfen hier nicht entlang.
»Das ist doch geschickt blockiert«, freut sich ein Berufsschullehrer. Zwar ist dem Mittfünfziger aus der Gegend von Hamburg auch nicht ganz geheuer, dass im Vorfeld so viel vom Ansehen Deutschlands im Ausland die Rede war. Weil das Fest am Ende aber dazu beitragen wird, den Marsch der Rechtsradikalen durch das Brandenburger Tor zu verhindern, könne die Idee nicht schlecht gewesen sein. Nur die nicht zuletzt aus Anlass der NPD-Anmeldung hitzig um Parteienverbot und Demonstrationsrecht geführte Debatte bereitet ihm Kopfschmerzen: »Grundrechteeinschränkung und Tag für die Demokratie – das passt irgendwie nicht zusammen.«
Auch nicht recht zusammenpassen will, dass auf dem Demokratie-Fest Menschen nebeneinander für ihre Sache werben, die sich im politischen Alltagsgeschäft oft wenig zu sagen haben. Wenn etwa schräg gegenüber der CDU eine jener Initiativen gegen Rechts ihren Stand aufgebaut hat, denen Unions-geführte Landesregierungen bis zur Existenznot die Mittel kürzen. Auch die Polizei macht an diesem 8. Mai deutlich, wo das »Bündnis der Demokraten« endet. Ein paar Punks mit zerschrammtem Kassettenrekorder und Bierflasche werden weggeschickt: »Eure Demo ist doch woanders.«
Woanders, das ist am Bert-Brecht-Platz, wenige hundert Meter Luftlinie entfernt. Hier versammeln sich schon vormittags mehrere tausend Anti-Nazi-Demonstranten. Die Berliner »Szene« ist nahezu komplett – von »Trotzkisten« über »Kommunisten« und Antifa bis zu »Anarchisten« und Punks. »Besser ein verordneter Antifaschismus als ein tolerierter Neofaschismus« – am Applaus gemessen trifft die Holocaust-Überlebende Erika Baum mit diesem Satz die Mehrheitsmeinung. »Deutsche Polizisten schützen die Faschisten« skandieren Demonstranten später.
Aus dem ganzen Bundesgebiet sind Gruppen und Einzelpersonen angereist. Die Polizei spricht von 6500 Teilnehmern, doch diejenigen eingerechnet, die sich in den Seitenstraßen verteilt haben, kann man wohl von 8000 bis 10000 Nazigegnern ausgehen. »Schön, dass so viele gekommen sind«, sagt eine 32-jährige Erzieherin aus Köln, die »seit Jahren mal wieder zu ’ner Demo gekommen« ist. Aber die Stärke sei doch eine scheinbare, fällt ihr ein Begleiter ins Wort. Geschuldet den Erfolgen der Neonazis in den vergangenen Jahren.

»Zum Glück ruft keiner Palästina-Parolen«

Tatsächlich war die Naziszene noch zum 50. Jahrestag der Befreiung nicht in der Lage, an Aufmärsche dieser Größenordnung an derart zentralen politischen Orten überhaupt zu denken. Warum sich das verändert hat, darüber streiten sich nicht nur die zahllosen Flugblätter, die während der Demo verteilt werden. Stellenweise wird im Protestzug mehr debattiert als demonstriert. Liegt’s primär an Sozialabbau und gesellschaftlicher Entsolidarisierung? Sind die Neonazis nur die Kehrseite der Rückkehr Deutschlands zum »Imperialismus«? Kann man von einer tief verwurzelten »Sehnsucht nach der Volksgemeinschaft« sprechen? Hat ein »neuer deutscher Opferdiskurs« »Revisionismus« und Antisemitismus Tür und Tor geöffnet? An anderen Tagen neigt die atomisierte Berliner linke Szene zum fast schon handgreiflichen Austrag solcher Streitigkeiten. Doch heute, am 8. Mai herrscht relative Einmut. Vor der Synagoge in der Oranienburger Straße stoppt der Zug für eine stille Gedenkminute. »Zum Glück«, flüstert die Erzieherin aus Köln, »ruft jetzt niemand Palästina-Parolen«.

»Die Sowjetarmee kam nicht als Rächer«

Am Brandenburger Tor wird unterdessen die »Jüdische Allgemeine« verteilt. Das Interesse ist an diesem 8. Mai größer als sonst – »könnte aber besser sein«, sagt die Frau mit der großen Umhängetasche. Aus Richtung Osten versucht eine unangekündigte Vertriebenen-Demonstration auf das von Polizei umstellte Festgelände zu gelangen. »Wenn hier nicht an das Leid der Deutschen erinnert wird, müssen wir das eben machen«, ruft ein aufgebrachter Endzwanziger mit geschminkten Verletzungen im Gesicht. »Für viele«, sagt ein Älterer, »begann das Leiden erst am 8. Mai – vor allem in den Ostgebieten«. Nach langer Diskussion erlaubt die Polizei die Passage – »Jeweils nur fünf, und nicht der Pferde-Wagen!«
Auf weniger Verständnis wären die Vertriebenen am morgen gestoßen.
Kurz vor zehn Uhr strömen über tausend Menschen zum sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park. Viele davon dürften das Kriegsende selbst erlebt haben und die meisten tragen Blumen mit sich. Das frisch restaurierte Denkmal, der Soldaten mit dem Kind auf dem Arm und dem Schwert, dass ein Hakenkreuz zerschlagen hat, ragt über die Menschenmenge. Sergej B.Krylow, russischer Botschafter, erinnert daran, dass die Sowjetarmee nicht als Rächer kam. Das Denkmal sei das beste Beispiel, es erzähle die wahre Geschichte eines Rotarmisten, der ein Mädchen aus einem brennen Haus rettete. »Diese Denkmäler sind Teil unserer Stadt und wir werden sie immer in Ehren halten«, ruft Walter Momper, Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses, aus. Abschließend erinnert Moritz Mebel, Kriegsteilnehmer und Rotarmist, an die 7000 Gefallenen Sowjetsoldaten, die hier in Treptow begraben liegen. »Die Neonazis werden immer frecher«, sagt er empört und verlangt unter großem Beifall ein Verbot aller neonazistischen Parteien. Nach den Redebeiträgen bildet sich auf und vor der Treppe hoch zum Mahnmal eine lange Schlange. Applaus brandet auf, als einige alte Männer mit roten Nelken in der Hand und zahlreichen Orden am Revers sich gegenseitig stützend hinaufsteigen, um ihre Blumen abzulegen.
Schon am Vorabend hatten rund 25000 Menschen eine Lichterkette »gegen Krieg, Rassismus und Rechtsradikalismus« gebildet. Zwar gab es an einigen Stellen Lücken auf den gut 30 Kilometern durch Berlin, doch Organisator Peter Kranz war zufrieden. »Der Mensch mit der Kerze in der Hand ist das stärkste Bild gegen Bomben, Granaten und Tote«, stellte der Pfarrer fest. Im Treptower Park am sowjetischen Ehrenmal wurden zur gleichen Zeit im Freien zwei Filme gezeigt: eine Dokumentation über die letzten zehn Tage Kampf bis zur Eroberung Berlins und der biografische Kriegsfilm »Ich war 19«.

»Deutschland, du Opfer«

Auch der kulturelle Gegenentwurf zur offiziellen Veranstaltung rund um das Brandenburger Tor fand bereits am Samstagabend statt. Am Alexanderplatz feierte die Antifa sich selbst und das Kriegsende unter dem Motto »Deutschland, du Opfer – Gegen Opfermythen & Geschichtsrevisionismus«. Am selben Ort, an dem anderntags die Nazis ihr Stelldichein haben sollten, spielten Gruppen wie die Hamburger Formation Tocotronic, die sich selbst als »antinationalistisch« bezeichnet.
Das Publikum vom Samstagabend trifft sich am Sonntag wieder gegen 15 Uhr rund um den Alexanderplatz. Nachdem die Antifa-Demo nach nur marginalem Gerenne und ein paar »Haut ab!«-Rufen für die Polizei weitgehend friedlich zu Ende gegangen ist, haben sich die meisten Demonstranten in Richtung Unter den Linden durchgeschlagen. Hier warten sie in größeren, aber verstreuten Gruppen hinter Polizeisperren darauf, dass irgendetwas passiert. Viel rührt sich nicht, bis gegen 16.30 Uhr klar ist: Die Rechten werden nicht marschieren. Es sind einfach zu viele Gegendemonstranten an und auf der Route. Wutgeheul unter den 3300 Nazis, Applaus auf der anderen Seite der Barrikade.

(ND 09.05.05)

Quelle: http://www.nd-online.de/artikel.asp?AID=71557&IDC=2